Victim Blaming: Wenn die Schuld die Unschuldigen trifft

Victim Blaming: Wenn die Schuld die Unschuldigen trifft

„Victim Blaming“ ist ein Begriff, der in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus gerückt ist. Er bezieht sich auf die Täter-Opfer-Umkehr Psychologie und damit auf die Tendenz, Opfer von Gewalt, Missbrauch oder anderen negativen Erfahrungen, die Schuld zuzuschieben, anstatt die Verantwortung bei den Tätern zu suchen. Diese permanente auftretende Schuldumkehr hat schwerwiegende Auswirkungen auf das Opfer und die Gesellschaft als Ganzes.

Victim Blaming

„Die ist doch selbst schuld, wenn sie angefasst wird. Schau dir nur mal ihren kurzen Rock an. Und ihren Ausschnitt!“

„Guck ihn dir doch an, der sieht schon aus wie ein Mobbingopfer!“

Solche und ähnliche Sätze hört man tagtäglich. Damit werden Opfer zu Schuldigen gemacht, obwohl sie in der Situation die Leidenden sind. In der Fachwelt hat sich für dieses Phänomen der Begriff „Victim Blaming“ etabliert.

Vicitim Blaming: Der Ursprung kommt aus den USA

Zum ersten Mal tauchte der Begriff „Victim Blaming“ in den 1970er Jahren in den USA auf, um eine Strategie der Anwälte von Vergewaltigungstätern zu beschreiben. Diese schoben den Opfern die Schuld an der Vergewaltigung zu und versuchten damit, für ihre Mandanten Freispruch zu erwirken. Im Deutschen spricht man hier von einer Täter-Opfer-Umkehr-Psychologie, weil sie die Rollen von Täter und Opfer in die Gegenteile verkehrt.

Seitdem hat sich das Denkmuster weit verbreitet, solche Sätze hört man oft. Erst 2018 bekam das Denkmuster Risse. In einem Vergewaltigungsprozess in Cork, Irland war Spitzenunterwäsche der Geschädigten das Beweisstück, um den Täter freizusprechen. Das entzürnte Frauen auf der ganzen Welt, die unter dem Hashtag #thisisnotconsent ihre Spitzenunterwäsche posteten.

Und sie haben Recht. Ein Opfer einer Straftat kann niemals schuld sein. Die Schuld an dem Verbrechen trägt alleine der Täter bzw. die Täterin.

Victim Blaming
Bild der Kampagne #Thisisnotconsent

Victim Blaming trifft immer die Unschuldigen

Häufig erfolgt die Umkehr der Rollen durch Dritte, die Zweifel daran hegen, ob die Betroffenen wirklich unschuldig sind oder ob sie vielleicht nicht eine Teilschuld an der Situation tragen. Diese scheinbar absurde Vorstellung wurzelt oft in der Angst, dass einem selbst etwas zustoßen könnte. Wenn die betroffene Person durch ihr Verhalten die Tat provoziert hat und somit mitverantwortlich ist, kann die Vorstellung entstehen, dass man selbst nur richtig handeln muss, um ähnliche Vorfälle zu entgehen. Dies vermittelt eine trügerische Sicherheit.

Narzissten und Psychopathen betreiben oft Victim Blaming

Der Psychologe Dr. Sam Vaknin hat in seinen Ausführungen deutlich dargelegt, wie Narzissten und Psychopathen Victim Blaming betreiben: Sie reden nahestehenden Personen Schuldgefühle ein, um sie davon abzuhalten, ihre Vormachtstellung in Frage zu stellen.

Die Täter-Opfer-Umkehr-Psychologie beherrschen Narzissten und Pschopathen besonders gut. Narzissten sehen sich als Nabel der Welt, können also gar nicht schuld sein. Psychopathen dagegen sind skrupellos und gewissenlos. Sie nehmen sich was sie wollen. Sie sind nicht in der Lage, Schuld oder Reue zu empfinden und projizieren ihre Fehler immer auf andere Personen, nie auf sich selbst. Allerdings sind nicht nur Narzissten und Psychopathen dazu nicht in der Lage. Victim Blaming wird in vielen Situationen betrieben:

  • Rassismus
  • Polizeigewalt
  • Häusliche Gewalt
  • Teilweise in der Politik
  • Bei anderen Krankheitsbildern wie beispielsweise Borderline oder einer Psychose
  • Nach einem Trauma

Victim Blaming begleitet uns durch den Alltag, durch die Medien und durch unser Leben. Jeder von uns hat es schon einmal gelesen oder war vielleicht sogar Opfer von Victim Blaming. Unter Umständen kann diese Viktimisierung, die Opfermachung, schlimme Folgen bis hin zum Trauma haben.

Wo uns Victim Blaming begegnen kann

Die Schuldzuweisung an Opfer kann in verschiedenen Situationen auftreten, darunter bei sexuellen Übergriffen, häuslicher Gewalt, Mobbing, Unfällen und sogar in einigen gesellschaftlichen Kontexten wie Armut oder Diskriminierung. Hier sind einige Beispiele, um die Täter-Opfer-Umkehr Psychologie zu veranschaulichen:

Häusliche Gewalt

Ein häufiges Beispiel für die Täter-Opfer-Umkehr tritt in Fällen häuslicher Gewalt auf. Hier wird das Opfer oft beschuldigt, die Gewalt provoziert oder ausgelöst zu haben. Dies geschieht aus verschiedenen Gründen:

  • Selbstverteidigung als Angriff dargestellt: Der Täter kann behaupten, dass er sich nur verteidigt hat und das Opfer ihn zuerst angegriffen hat. Dies führt dazu, dass das Opfer als Aggressor erscheint.
  • Opfer wird als emotional instabil dargestellt: Der Täter kann das Opfer als emotional instabil oder hysterisch darstellen, um seine eigenen Handlungen zu rechtfertigen. Dadurch wird die Schuld auf das Opfer verschoben.
  • Gesellschaftliche Vorurteile: In einigen Gesellschaften werden Opfer häuslicher Gewalt als schwach oder selbst schuldig angesehen, weil sie nicht in der Lage waren, sich zu schützen oder die Beziehung zu verlassen. Dies führt zu Schuldzuweisungen an das Opfer.

Mobbing in der Schule

Ein weiteres Beispiel für die Täter-Opfer-Umkehr findet sich im Kontext von Mobbing in der Schule. Hier wird das Opfer oft für das Mobbing verantwortlich gemacht, anstatt die Täter zur Rechenschaft zu ziehen. Dies kann aus folgenden Gründen geschehen:

  • Schuldzuweisung an das Opfer: Die Täter können behaupten, dass das Opfer sich anders verhalten oder Kleidung tragen sollte, um das Mobbing zu verhindern. Dadurch wird das Opfer für die Handlungen des Täters verantwortlich gemacht.
  • Unterstützung der Täter durch die Gruppe: Wenn eine Gruppe von Schülern am Mobbing beteiligt ist, können sie das Opfer isolieren und es als „anders“ oder „verrückt“ darstellen. Dies führt dazu, dass das Opfer von der Gemeinschaft abgelehnt wird.
  • Mangelnde Aufklärung und Prävention: In Schulen, in denen Mobbing nicht ausreichend aufgeklärt oder verhindert wird, können Lehrer und Schulleiter dazu neigen, das Opfer für das Mobbing verantwortlich zu machen, anstatt die Täter zur Verantwortung zu ziehen.

Sexuelle Belästigung

Sexuelle Belästigung ist ein weiterer Bereich, in dem die Täter-Opfer-Umkehr häufig vorkommt. Opfer sexueller Belästigung werden oft beschuldigt, die Situation selbst herbeigeführt zu haben. Dies geschieht aus verschiedenen Gründen:

  • Opferbeschuldigung: Die Täter können behaupten, dass das Opfer sich provokativ gekleidet oder flirty verhalten hat, was ihre Handlungen gerechtfertigt habe.
  • Opfer wird als überempfindlich dargestellt: Manchmal werden Opfer sexueller Belästigung als überempfindlich oder hysterisch dargestellt, um ihre Anschuldigungen zu diskreditieren.
  • Mangelnde Sensibilisierung für sexuelle Belästigung: In Gesellschaften, in denen sexuelle Belästigung nicht ausreichend als Problem erkannt wird, neigen Menschen dazu, die Opfer zu beschuldigen, weil sie nicht verstehen, wie ernst das Problem ist.

Rassismus und Diskriminierung

Die Täter-Opfer-Umkehr tritt auch im Kontext von Rassismus und Diskriminierung auf. Opfer von Rassismus werden oft beschuldigt, selbst rassistisch zu sein oder die Spannungen herbeigeführt zu haben. Dies kann aus verschiedenen Gründen geschehen:

  • Umkehrung der Rolle: Täter von Rassismus können versuchen, sich selbst als das wahre Opfer darzustellen, indem sie behaupten, dass sie aufgrund ihrer Rasse benachteiligt werden.
  • Opferbeschuldigung: Rassistische Täter können behaupten, dass die Opfer ihren Rassismus provoziert haben, indem sie bestimmte Verhaltensweisen gezeigt haben.
  • Mangelnde Sensibilisierung für Rassismus: In Gesellschaften, in denen Rassismus nicht ausreichend erkannt oder verstanden wird, neigen Menschen dazu, die Opfer zu beschuldigen, anstatt die rassistischen Täter zur Rechenschaft zu ziehen.

Cyber-Hass und Trolle im Internet

Diese Form der Rollenumkehr beschränkt sich jedoch nicht nur auf den Bereich der sexualisierten Gewalt, des Rassismus und des Mobbings auf Schulhöfen, sondern auch im Internet begegnet uns häufig diese Extremform der Menschenverachtung.

Personen, die Hass oder Fehlinformationen online verbreiten, beschweren sich oft über vermeintliche Zensur und die Einschränkung ihrer Meinungsfreiheit, wenn ihre Beiträge gelöscht werden. Dabei wird häufig außer Acht gelassen, dass die Löschung aufgrund von Verstößen gegen die Plattformrichtlinien oder sogar geltendem Recht erfolgt. Die Verfasser von Hassnachrichten inszenieren sich als Opfer einer „Meinungspolizei“, während sie tatsächlich die Meinungsfreiheit gefährden.

Was steckt hinter Vicitim Blaming?

Hinter dem Phänomen des „Opferbeschuldigung“ stehen mehrere psychologische, soziale und kulturelle Faktoren, die dazu führen, dass Menschen die Verantwortung für negative Ereignisse oder schädliche Handlungen auf die Opfer verlagern, anstatt die Täter oder äußere zur Rechenschaft zu ziehen. Hier sind einige der wichtigsten Aspekte, die sich hinter Victim Blaming verbergen:

  1. Kognitive Dissonanz: Menschen haben oft ein tief verwurzeltes Bedürfnis nach Kohärenz und Konsistenz in ihrem Denken. Wenn sie mit der Realität konfrontiert werden, dass unschuldige Menschen Opfer von Verbrechen oder Unglück werden können, kann dies Unbehagen und kognitive Dissonanz auslösen. Um dieses Unbehagen zu reduzieren, neigen einige dazu, die Verantwortung auf das Opfer zu übertragen, um die Vorstellung aufrechtzuerhalten, dass „so etwas mir nicht passieren könnte“.
  2. Attributionstheorie: In der Psychologie gibt es die Attributionstheorie, die sich mit der Kunst und Weise befasst, wie Menschen Ursachen für Ereignisse zuschreiben. Beim Victim Blaming neigen einige dazu, interne und kontrollierbare Faktoren (wie das Verhalten des Opfers) als Ursache für das negative Ereignis zu sehen, stattdessen externe und unkontrollierbare Faktoren (wie die Handlungen des Täters oder unglückliche Ereignisse) zu berücksichtigen.
  3. Sicherheitsillusion: Menschen möchten oft ein Gefühl von Sicherheit und Kontrolle über ihr eigenes Leben pflegen. Opfer von Verbrechen oder Unfällen zu sehen, erinnert sie daran, wie zerbrechlich das Leben sein kann. Um dieses Unbehagen zu minimieren, neigen einige dazu, zu glauben, dass das Opfer in irgendeiner Weise für sein Schicksal verantwortlich ist.
  4. Soziale Normen und Stereotypen: In vielen Gesellschaften gibt es stereotype Vorstellungen darüber, wie Opfer und Täter aussehen oder sich verhalten sollten. Wenn die Erfahrung eines Opfers nicht mit diesen Vorstellungen übereinstimmt, kann dies zu Victim Blaming führen. Zum Beispiel könnten Vorurteile gegenüber Frauen in sexuellen Übergriffsfällen dazu führen, dass man ihnen die Schuld gibt, wenn sie sich auf bestimmte Weisen kleiden oder verhalten.
Victim Blaming: Es trifft immer die Unschuldigen

Aber vielleicht können wir es ja auch aus einem anderen Blickwinkel betrachten?

Man könnte Victim Blaming auch anders sehen…

Niemand ist gerne schuld. Deshalb hat auch selten jemand Schuld, wenn etwas passiert. Verantwortung aber trägt jeder. Für die eigene Erwartung, die dazugehörige Enttäuschung, das darauffolgende Verhalten, das Bewerten. Und damit auch für die Gedanken und Gefühle.

Wenn ich mich in meiner Partnerschaft schlecht fühle, hat niemand Schuld. Unser Partner ist nur ein Spiegel und zeigt uns, was wir noch nicht aufgelöst haben, was bei uns verletzt ist, was wir aber nur beim Gegenüber wahrnehmen.

Jeder bringt in eine Partnerschaft seine eigenen Themen mit, die es auszubalancieren gilt. Hier wird oft beidseitig Victim Blaming betrieben, statt sich den eigenen Problemen zu stellen. Es ist die Wahrnehmung, die uns täuscht und die zu einer Projektion sowohl im Innen als auch im Außen führt.

Victim Blaming ist und bleibt negativ!

Egal, in welcher Form es nun auftaucht, Victim Blaming ist niemals etwas Positives! Das Opfer, wird einer Tat beschuldigt, die ein Täter begangen hat. Auch Gaslighting hat in gewisser Weise damit zu tun. Denn hier wird dem „Opfer“ auch noch das Gefühl abgesprochen, was es nun mal hat, nach so einer Tat.

Statt Beistand und Hilfe erfährt das Opfer Anklage und Beschuldigung. Traumafolgestörungen werden dadurch wahrscheinlicher und extremer.

Wer davon betroffen ist, sollte sich von der Täterperson lösen und Hilfe in Anspruch nehmen. Mentale Trainings können helfen, sich von anonymen Victim Blamings zu schützen, die vermehrt im Internet auftauchen und denen nicht durch Abgrenzung zu entkommen ist.

Wenn du Opfer der Täter-Opfer-Umkehr eines Narzissten wurdest, oder sonst wie Hilfe suchst, dann melde dich gerne.

© Daniel Brodersen

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